Trauer – Die Seele packt die Koffer

Wie zum Teufel geht man denn mit Trauer um? Was passiert, wenn ein Mensch nicht mehr da sein wird, wo sie oder er bislang immer war? Ich weiß es wirklich nicht. Allerdings weiß ich, dass es für jeden Menschen ein individueller Weg ist. Während ich diesen Artikel hier beginne, verabschiedet sich meine Mutter von der Welt. Wobei: Sie dämmert weg. Ja, es klingt hart. Aber am Ende ist es genau das. Und das ist tröstlich. Ich will einfach meine Gedanken hierzu aufschreiben.

Ein langes Leiden geht zu Ende

Im Jahr 2018 war es so, dass ich häufig Blogartikel zu allem Kram verfasst hatte. Und ich hatte mich Ende August dafür entschuldigt, dass Ruhe herrschte. Im Artikel selbst habe ich vor mich hin orakelt über eine „akute Erkrankung im Familienumfeld“. Damals war meine Mutter schwer krank. Nach Monaten, die von Operationen und Therapien und dergleichen geprägt waren, war das Alles überstanden. So schien es.

Ich mache es kurz: Sie hatte zu der Zeit eine ganz wilde Mischung an Erkrankungen mit sich herum getragen. Es gab dann längere Zeit nichts bedrohliches. Und dann fing es irgendwann an, dass wieder Krankenhaus-Aufenthalte kamen. Die Abstände wurden nur immer kürzer. Zuletzt brach sie sich einen Arm und kam wieder ins Krankenhaus. Alle bisherigen Beschwerden sind aber noch da. Und noch einiges, was nicht erkannt oder nicht behandelt wurde. Ich weiß nicht warum.

Jedenfalls hatte sie einen ganzen Strauß an Krankheiten, die jede für sich kein Problem darstellen. Aber die Kraft verließ sie. Und mit ihr die Lust, weiter zu machen. Ich stand vor einem Häufchen Elend, der eine absurde Karikatur meiner Mutter ist. Vor ein paar Tagen war da noch ein gesundheitlich eingeschränkter, aber lebenslustiger Mensch. Es machte sich tiefe Trauer breit. Mein ewig leuchtender Stern würde sich schon in Kürze für immer verdunkeln.

Nachdem ich wie ein Schlosshund geheult hatte und viele komplett bescheuerte Dinge an der Seite eines sterbenden Menschen gesagt hatte, machte sich aber eine Erkenntnis breit: Ein langes Leiden geht zu Ende. Es ist nicht so, dass ich meine Mutter verliere. Es ist so, dass sie es geschafft hat. Sie muss jetzt nicht mehr kämpfen, um den nächsten Tag zu überstehen. Das tröstete mich bei all der Trauer. Shit, da drückt sich wieder eine Träne raus.

Wie geht man denn mit Trauer um?

Es gibt wohl kein Patentrezept dafür, wie man mit Trauer umgeht. Ja, ich bin traurig. Und ohne meine Frau würde ich komplett kopflos vor mich hin heulen. Den einen treibt so etwas in die Wut auf Ärzte, die vielleicht vor langer Zeit Maßnahmen nicht eingeleitet haben, was wohl stimmt. Andere treibt es in wilden Aktionismus oder Panik oder eben auch Lethargie. Oder man erzählt sich Anekdoten des Menschen. So, wie es der Christian mal gemacht hat.

Ich habe keinen blassen Schimmer, ob ich das so richtig mache. Das läuft eher alles so wie ferngesteuert ab. Als ich da vor meiner Mutter stand und vor mich hin geheult hatte, kam ich mir so hilflos vor. Einem Menschen, der vor ein paar Tagen noch Pläne und Lebensmut hatte, waren komplett alle Gesichtszüge entglitten, die Haut sah aschfahl aus, es gab nur ungefähre Zuckungen. Der Mund war geöffnet, aber es kam nichts heraus. Ich kann damit nicht umgehen.

Ich bekam keine Luft. Und das lag nicht an der Maske. Ich konnte meine Mutter einfach nicht so liegen sehen. Vor allem, wenn sie vor ein paar Tagen noch lebenslustig trotz Gebrechen war. Ich bekam das einfach nicht miteinander verbunden. Der behandelnde Arzt meinte, dass ihre bestehenden Gebrechen in Summe schon schlimm waren. Aber der Armbruch brachte das Fass zum Überlaufen. Dazu die vollständige Kapitulation eines starken Geistes. Ende Gelände.

So war sie halt

Meine Mutter war, so lang ich sie kenne, eine Macherin. Sie hatte die Regeln aufgestellt. Und es ging nach ihren Vorstellungen. Was sie nicht mochte, kam am Wochenende eben nicht auf den Tisch. Wir waren in meiner Kindheit an der Ostsee, an der Mecklenburgischen Seenplatte, bei ihrer Familie in Thüringen. Es lief außer dem Butzemannhaus kein DDR-Radio bei uns zuhause, sondern Fritz Egner und Tommy Gottschalk. NDR2 und Bayern3 waren angesagt. Die DDR war die Zone, sonst nichts.

Sie stand mir immer zur Seite. Aber sie hat mich auch kurz und klein geschimpft. Mit über 50 Jahren musste sie sich beruflich neu erfinden. Das half mir 10 Jahre später dabei, als ich mich beruflich neu erfinden musste. Wir schauten zusammen Star Trek und Babylon 5, und kein Tatort war vor ihr sicher. Sie war bis zuletzt daran interessiert, was RB Leipzig so treibt. Und sie hatte es bedauert, dass ich nichts mehr zum Club blogge. Und mit ihren Ansichten war sie immer klar und stets hart am Wind.

Sie war aber auch eigenbrötlerisch. Sie hätte sich lieber auf die Zunge gebissen, als dass sie um Hilfe gebeten hätte. Das hatte auch zur Folge, dass man ab und an verwundert war, was sie nun wieder gemacht hatte. Und sie fraß Sorgen, Nöte, Ängste in sich hinein. Wer weiß, wie lang es ihr wirklich schon so scheiße ging. Sie hatte ja nie irgendwas gesagt. Angesehen hatte man ihr nichts. Bei all der Trauer wird einem auch das klar. Aber vielleicht war das ja auch ihr so ruhiges und immer zufriedenes Naturell?

Das Wichtigste aber war, dass sie sich nie hat kleinkriegen lassen. Ausweglosigkeit in einer zugrunde gewirtschafteten DDR, Arbeitslosigkeit, ein Sohn in einer Drückerkolonne, ein Alkoholiker als Mann, die jahrzehntelangen gesundheitlichen Probleme: All diese Dinge haben sie über all die Jahrzehnte nie aufgeben lassen. Am Ende waren es mehrere innere Kleinigkeiten und keine Lust mehr auf noch mehr Operationen, die das dann geschafft hatten.

Eine Seele packt die Koffer

Die letzte Zeit hatte sie ein mobiles Beatmungsgerät zuhause. Sie litt an Luftnot. Über dessen Verwendung waren sich aber die Ärzte nicht einig. Sie war quasi aufgrund ihrer Gebrechlichkeit zuhause eingesperrt. Nicht mal zum Briefkasten ging sie mehr. Trotz Fahrstuhl. Und irgendwie hatte sie auch nichts mehr interessiert. Ihre Liebe für ihren Computer kühlte sehr schnell ab. Nur noch Fernsehen. Manchmal lag sie auch nur auf dem Bett und hörte Radio. Oder sie rätselte. Aber sie wirkte lebensfroh.

Aber wer weiß, vielleicht hatte ihre Seele schon die Koffer gepackt. Oder war dabei. In Zeiten von Trauer kommt man ja auf solche Ideen. Ein Mensch, der auch mit dem Rollator gern mobil war oder zumindest mal raus geht, lässt sich nicht einsperren. Vielleicht hat sie ja nur noch auf den Tod gewartet, weil sie grundsätzlich wusste, dass das nicht mehr lang mit ihr gutgehen würde. Aber das ist natürlich alles nur Stochern im Nebel.

Wenn ich in meiner Trauer irgendwas davon erzähle, dass die Seele die Koffer packt, dann denke ich mir: Die Seele muss ja irgendein Energiefeld oder sowas sein. Die stirbt nicht mit, wenn der Körper stirbt. Meine Mutter hatte zu mir gesagt, als ich die letzten klaren Worte von ihr hörte: „Lasst mich einfach gehen“. Dann muss die Seele also aus dem Körper raus, sie geht auf Wanderschaft. Wer weiß, vielleicht fängt dann abends irgendein Stern an zu leuchten. So mit der Energie meiner Mutter.

Mach’s gut, Mütterchen

Ich habe scheinbar nie „Mama“ zu ihr gesagt, außer am Anfang meines Lebens. Es war jahrelang die DDR-typische Mutti, dann Mutter. Und seit der Sache vor drei Jahren war sie eben das Mütterchen. Sie wollte immer, dass es mir gut geht. Sie war so unsagbar froh, als sie meine jetzige Frau damals kennengelernt hatte. Und bis zuletzt hat sie immer gesagt, dass sie sehr glücklich ist, dass ich meine Frau habe.

In meiner Trauer stelle ich aber fest: Es ist alles geregelt. Sie hatte darauf gewartet, dass ich in gute Hände komme, bevor sie schwer krank wurde. Ihr Begräbnis ist geregelt, der Nachlass ist geregelt, alles ist geregelt. Und sie wusste auch, dass es meiner Tochter gut geht. Sie konnte beruhigt gehen, so wie sie es gewollt hat: Würdevoll, ohne Schmerzen, ohne Leiden, selbstbestimmt. Das ist tröstlich. Glaubt es mir ruhig.

Mach’s gut, Mütterchen. Du hast immer Stärke gezeigt. Auch am Ende, weil du bestimmen wolltest, dass es nicht mehr weitergeht. Du warst immer mein Stern, egal, welche Differenzen wir manchmal hatten. Du warst die gute Seele. Aber du hast es geschafft, du hast keine Schmerzen mehr. Bei all der Trauer ist das ein Grund zur Zufriedenheit. Und das ist so grotesk, wie es klingt. Aber es hilft mir, damit klar zu kommen, dass du nun gehst. Danke für 48 Jahre.

Am 28. Oktober ging ich in eine enorm unruhige Nacht. Ich fand ewig keine Ruhe. Immer wieder kamen Erinnerungen hoch. Und am frühen Morgen des 29. Oktobers hatte ich ganz plötzlich das dringende Bedürfnis, meine Mutter noch einmal zu besuchen. Das stellte sich ungefähr zu der Minute ein, als sie friedlich einschlief. Die Welt wird eine andere sein, aber meine Mutter wird auch nach der Trauer nie vergessen sein.

18 Replies to “Trauer – Die Seele packt die Koffer”

  1. Hallo Henning,
    mein Beileid hast du.
    Mir selbst aber fehlen in solchen Situationen oft die richtigen Worte weil Worte allein sagen überhaupt nicht genügend aus.
    Gefühle die man dabei hat weitaus mehr, weil sie über alles hinweg strahlen.

    Nun du fragst wie geht man mit Trauer um, nimm dir die Zeit die du brauchst aber vergiss die Lebenden nicht wie z.b. deine Tochter warum sage ich das weil oft man sich in sein Schneckenhäuschen verzieht und alles vergisst was draußen passiert.
    Und außerdem heißt es ja geteiltes Leid ist halbes Leid denn andere trauern ja auch du bist ja sicherlich nicht der einzige in deiner Familie.

    Also Kopf hoch denn das Leben geht weiter schon alleine weil es muss.

  2. Mein herzliches Beilied, lieber Henning. Es gehört eine ganz Menge dazu, so einen Artikel zu schreiben. Ich habe das selbst nie hin bekommen. Bleib stark!

  3. Abschied und Tod der geliebten Menschen sind schwer zu verarbeiten. Die Zeit wirkt nach und ist prägend, selbst wenn man das Glück hat, die Eltern erst in einem höheren Lebensalter zu verlieren. Ich drücke dir und deiner Familie mein tiefes Mitgefühl aus. Ich sehe, dass du Trost in dem Gedanken findest, dass deine Mutter von ihren irdischen Leiden erlöst wurde.

    Im Mai 2013 starb mein Vater. Er war achtzig Jahre alt und bereits einige Jahre zuvor schwer erkrankt. Mir hat es in meiner Trauer auch geholfen, mir einiges von der Seele zu schreiben. Ich habe, wie du, darüber gebloggt. Der Beitrag ist heute nicht mehr existent. Seitdem ist viel passiert. Aber ich erinnere mich wirklich gut, dass mir das geholfen hat. Auch am Tag der Beerdigung.

    Ich wünsche dir und deiner Familie viel Kraft.

    Herzliche Grüße
    Horst

    1. Hallo Horst,

      Ja, ich kann mich daran erinnern, dass da mal irgendwann was war. Aber ich könnte nichts mehr dazu sagen. Mich hat der im Artikel verlinkte Christian inspiriert.

      Vielen herzlichen Dank für deine Worte in dem Kommentar. Das ist viel Wert in diesen irren Zeiten.

  4. Hi Henning,
    Ich melde mich relativ spät – solche Dinge muss ich immer erst sacken lassen. Ich gestehe: Ich bin in solchen Dingen auch nicht gut – weder darin Gefühle zu zeigen, noch Sie zu beschreiben. In der Regel schotte ich mich dann ab. Diesen Schritt, so seine innersten Empfindungen zu zeigen – dies würde ich mich nicht wagen aus Angst mich angreifbar zu machen. Denn das Internet ist grausam geworden. Ich ziehe meinen Hut vor deinem Mut!
    Dein Verlust tut mir leid – freue mich aber, dass Du eine Mutter hattest, die den Begriff Mutter verdient hatte und auch als Mensch „ein knorke Typ“ war, wie man es hier im Pott früher gesagt hat.
    Grade diese Menschen – gradeheraus, ehrlich, im Leben ein echtes Stehaufmännchen (wenn ich lese, was Sie für Widrigkeiten im Leben zu bestehen hatte) und trotzdem für einen da, sind die, die schmerzhafte – und nicht zu füllende Lücken im Leben hinterlassen.
    Dass Du eine Frau hast und ein intaktes Familienleben hast wird Dir sicher helfen den Verlust besser zu verkraften.
    Sei gedrückt mein Lieber!
    CU
    P.

    1. Nein, du meldest dich doch nicht relativ spät. Schau mal, wann meine Antwort kommt!
      Na klar, das Internet ist grausam. Aber ich habe nur gute Erfahrungen mit diesem Text gemacht.
      Im Osten sagt man auch „knorke“, außer in Berlin, da ist es „dufte“. Ja, das war meine Mutter wirklich.

  5. Hallo Henning,

    mein herzliches Beileid! Mit der Trauer muss man einfach fertig werden, sonst macht die Trauer dich fertig. Wichtig dabei ist (wie ich finde) die Gefühle einfach zuzulassen. Jawoll, auch Männer dürfen weinen. Ich erinnere mich oft an die schönen Erlebnisse, die man gemeinsam hatte. Ich denke, das hilft auch mächtig bei der Trauerbewältigung. Und wenn ich dann daran denke, was meine Mutter, meine Omas und meine anderen Ahnen erlebt und durchgemacht haben, dann ist das Hier und Heute auch nicht schlimmer.

    Beste Grüsse

    Torsten

    1. Hallo Torsten, dankeschön. Es stimmt schon, dass man lernen muss, damit umzugehen. Denn sonst geht noch mehr schief. Das heißt ja nicht, dass man irgendwen vergessen soll. Aber man lebt ja weiter. Und deshalb muss man einen Weg finden, damit umzugehen.

  6. Hallo Henning,
    lese diesen Beitrag leider erst jetzt. Herzliche Anteilnahme auch von mir. Ich kann sehr gut nachempfinden, wie es Dir gehen mag. Ich habe damals, als meine Mutter ging, einige Zeit für die Verarbeitung gebraucht. Und es gibt kein Patentrezept für den Umgang mit der Trauer, da ist jeder anders. Mich als Christ tröstet die Überzeugung, dass es kein Abschied für immer ist.
    Alles Liebe für Dich!
    Liebe Grüße
    Roland

    1. Hallo Roland, vielen lieben Dank für deine Worte. Mir hat das Schreiben viel gegeben. Und die Gedanken an meine Mutter helfen mir auch weiter. Nicht zuletzt aber ist es auch meine Frau, die für mich da ist.

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