Freistaat Leipzig – Sachsen am politischen Abgrund

Ich bin kein Freund von schreienden Überschriften. Aber ich denke, es ist Zeit, den Freistaat Leipzig zu gründen. Es geht nicht mehr anders. Denn hier sind die politischen Verhältnisse noch nicht ganz so schlimm wie im Rest des Freistaats Sachsen. Und mit knapp 600000 Einwohnern wäre Leipzig wahrscheinlich auch allein lebensfähig. Hintergrund ist, was gestern bei den Wahlen passierte.

Europawahl in Sachsen: Große Scham macht sich breit

Man muss sich als Einwohner des Freistaats Sachsen in Grund und Boden schämen. Und man muss richtig echte Angst vor dem politischen Abgrund haben, in den das Bundesland nach den bevorstehenden Landtagswahlen stürzen wird. Der Vogtlandkreis, der Landkreis Zwickau und der Landkreis Leipzig haben mehrheitlich die CDU gewählt, die Stadt Leipzig grün. Der Rest allerdings mehrheitlich AfD.

So kommt es zustande, dass bei der gestern gelaufenen Europawahl die AfD erstmals vor der CDU liegt. Mit Respekt-Abstand folgen die Linke, die Grünen, die SPD und die FDP. Können diejenigen, die eine solche Wahlentscheidung getroffen haben, überhaupt noch in den Spiegel sehen? In Leipzig war es nicht so schlimm. Weil Leipzig immer schon anders war.

Auch wenn wir auf das vorläufige Wahlergebnis zur Kommunalwahl schauen, wirkt es nicht ganz so schlimm. Die Linke gewinnt vor den Grünen, beide oberhalb 20%. Die CDU folgt mit 17% und dann erst die AfD mit immernoch knapp 15%. Damit man sich als Leipziger nicht mehr so schämen muss, wäre ich für einen Freistaat Leipzig.

Warum ein Freistaat Leipzig?

Ist das nicht ein desaströses Ergebnis für Sachsen? 25,3% aller abgegebenen Stimmen entfielen auf die nationalkonservative Partei. Ich wähle dabei bewusst keinen anderen Begriff. Bei 2,1 Millionen abgegebenen Stimmen sind es über eine halbe Million Stimmen für diesen Laden. Fast so viel, wie Leipzig Einwohner hat.

In Leipzig bekamen die Grünen 20,2% der 280000 Stimmen. Damit tickt Leipzig ganz anders als der Rest von Sachsen. Vielleicht liegt es an der Weltoffenheit, vielleicht an der Universität, vielleicht an den vielen zugezogenen Menschen. Wer weiß das schon. Jedenfalls versteht der normale Leipziger nicht, wieso in manchen Regionen Sachsens die AfD nahe an die 50% kam.

Deshalb führt kein Weg daran vorbei, dass die Leipziger Bürgerschaft sich standhaft zeigt und an einem Freistaat Leipzig arbeitet. Freistaat deshalb, weil ein solcher Teilstaat von keinem Monarchen regiert wird und demnach eine freie Republik ist. Klar, das Wort „Freistaat“ hat in Deutschland keine rechtliche Bedeutung. Aber er sollte symbolisieren, dass sich Leipzig nicht mit den rechten Strukturen gemein macht.

Wissen die Wähler, was sie wählten?

Schauen wir mal zur AfD Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Dort ist das Programm der Partei übersichtlich dargestellt. Manches in dem Programm liest sich ganz gut. Aber zwischendrin haben wir Aspekte, die ich gern mal nennen möchte:

  • Mehr Volksabstimungen: OK
  • Parteienfinanzierung überarbeiten: OK
  • Freie Listenwahl und freies Mandat: Was ist damit anzufangen?
  • Direktwahl des Bundespräsidenten: Ist das denn wirklich wichtig?
  • Straftatbestand der Steuerverschwendung: Ernsthaft? Dann fangen wir bei der AfD an
  • Europa kein zentralistischer Bundesstaat: Soll doch auch nicht so kommen
  • Kompetenzen zurück an die Nationalstaaten: Und wofür?
  • Volksabstimmung über den Euro: Genau, die D-Mark für Kleinkleckersdorf
  • Nein zur Bankenunion: Könnte man darüber reden
  • Polizei stärken und Strafjustiz verbessern: OK, aber mit welchen Mitteln?
  • Weisungsfreie Staatsanwälte und unabhängige Richter: Wer behauptet das Gegenteil?
  • Härtere Strafen bei Angriffen auf Amtspersonen: OK
  • Opferschutz statt Täterschutz: OK
  • Waffenrecht nicht verschärfen: Wollen die mich veralbern?
  • Organisierte Kriminalität bekämpfen: OK
  • Deutsche Grenzen schützen: Ach ja, „Merkel hat die Grenzen aufgemacht“
  • NATO nur als Verteidigungsbündnis: Na, was denn sonst?
  • Besseres Verhältnis zu Russland: Das hat sich der östliche Riese selbst so ausgesucht
  • Keine europäische Armee: Und wieso nicht?
  • Wehrpflicht wieder einsetzen: OK
  • Nachhaltige Entwicklungshilfe: OK
  • Statt Bundesagentur für Arbeit aufgewertete kommunale Jobcenter: bedingt OK
  • Mindestlohn beibehalten: Also die kleinen Einkommen _nicht_ stärken, aha
  • Kinder und Erziehungsleistung bei Sozialleistung berücksichtigen: OK
  • Aktivierende Grundsicherung: Was soll das sein?
  • Pflege durch Angehörige aufwerten: Die Pflegesituation soll also so angespannt bleiben
  • Bekenntnis zur traditionellen Familie: Also Abwertung von gleichgeschlechtlichen Paaren und Alleinerziehenden, hört hört
  • Mehr Kinder statt Masseneinwanderung: Aha, die Frau als Legehenne
  • Diskriminierung der Vollzeitmütter stoppen: Wer macht das denn?
  • Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene: Was? Heißt das, dass Verhütungsmittel abgeschafft werden sollen?
  • Deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus: Also Deutschland den Deutschen
  • Deutsche Sprache als Zentrum der Identität: Wo ist das bitte nicht der Fall?
  • Der Islam gehört nicht zu Deutschland: Doch, da das Grundgesetz Religionsfreiheit garantiert
  • Zeitgemäße Medienpolitik, Rundfunkbeitrag abschaffen: Wie soll sich dann Journalismus finanzieren?
  • Forschung und Lehre in Freiheit und als Einheit: Was soll das Geschwafel?
  • Diplom, Magister, Staatsexamen, dafür keine Gender-Forschung mehr: Hhm? Ohne Worte
  • Das Schulsystem soll stark durch Differenzierung sein: Wer arm ist, soll also ungebildet bleiben
  • vollständige Schließung der EU-Außengrenzen: Mit welchem Völkerrecht bitte?
  • Schluss mit Fehlanreizen und falscher Nachsicht: OK
  • Keine direkte Einwanderung in die Sozialsysteme: Die gibt es doch sowieso nicht
  • Bürokratieabbau, Subventionsabbau, Mittelstand stärken: ersteres OK, der Rest baut aufeinander auf
  • Quelloffene Software und sichere Kommunikation als Bürgerrecht: Niemand muss sich auf irgendwas festlegen, das ist Marktwirtschaft
  • Langlebige Produkte und Prüfung auf Schadstoffe: OK, ist aber bereits der Fall
  • Keine Privatisierung gegen Bürgerwillen, Trinkwasser schützen: OK, sind aber Grünen-Themen
  • Klimaschutz ist Irrweg, Umwelt schützen: Was soll man dazu noch sagen?
  • Energieeinsparverordnung und Erneuerbare-Energien-Wärme-Gesetz abschaffen: Wer erklärt es ihnen, bitte?
  • Bioenergie beenden: Warum? Was ist der Sinn?
  • Laufzeitverlängerung bei Kernenergie: Jeder Wissenschaftler weiß, dass das Irrsinn ist
  • Gerechte Steuern, Obergrenze für Steuern und Abgaben: ersteres OK, letzteres heißt: Besserstellung für gut verdienende
  • Familiensplitting einführen: Ah, endlich wird das Kindergeld versteuert
  • Wettbewerb nationaler Steuersysteme, Bankgeheimnis wiederherstellen: ersteres fördert Steueroasen und Löcher in Haushalten, letzteres gilt bis heute
  • Staatsschulden tilgen: Das wird zuverlässig gemacht
  • Bargeldnutzung uneingeschränkt erhalten: Niemand muss elektronisch bezahlen
  • Geldsystem überdenken, Gold heimholen: Oha, das gute, alte Zahngold
  • Ausbau der Windenergie stoppen: Habt ihr was anderes?
  • Tiere sind fühlende Wesen: Ach was, auch auf euren Tellern?
  • Gentechnik und Saatgutvielfalt: Was? Abschaffen, ausbauen, erhalten?
  • Landwirtschaft: Mehr Wettbewerb, weniger Subventionen: Super, die Landwirte können ihre Höfe schließen
  • Fischerei, Forst, Jagd im Einklang mit der Natur: Ja, aber natürlich
  • Öffentlich-private Projekte mit Transparenz statt Lobby: OK
  • Straßennetz und Schiene: Substanz erhalten: Also _keineswegs_ ausbauen
  • Freie Nutzung der Verkehrsmittel ohne Schikanen: Schikanen? Und frei ist nichts, wird es auch nicht werden.
  • Eine Perspektive für den ländlichen Raum: Ja, und welche?
  • Wohnungspolitik: Werterhalt statt Neubau: Mit der AfD bleibt die Wohnungsnot

Sachsen fällt in die Vergangenheit zurück

Ich beschäftige mich eingehend mit dem Thema Smart Cities und glaube, dass ich dazu einiges beitragen kann, das Thema besser zu verstehen. Ich war auf einer Ideenkonferenz, auf der der sächsische Ministerpräsident Kretschmer zugegen war. Dort hatte er dargelegt, was der Schmerz ist: Die Energiewende, die an sich gut und richtig ist und auch kommen wird.

Allerdings kann man nicht einfach so in die Lausitz oder in den Leipziger Südraum latschen und den Arbeitern in den Tagebauen erzählen, dass die Kohle zwar weg ist, aber kein Konzept für die Zeit danach vorhanden ist. Da werden Fördergelder für Aussichtstürme in Brüssel und Berlin bewilligt. Aber Arbeitsplätze für die Zukunft?

Kretschmer hat das Problem, dass zu lang die CDU so derart dominant in Sachsen regiert hatte und die SPD hier keinerlei Alternative darstellt. Dazu kommen einige Punkte aus dem Programm der AfD, die gar nicht so schlecht klingen. Und dann muss nur noch jemand wohlfeile Reden schwingen, dann wird so eine Partei auch gewählt.

Deshalb muss es einen Freistaat Leipzig geben. Denn meine Heimatstadt kann es besser. Ob es in jedem Fall besser ist, eine linke Koalition im Stadtrat zu haben, ist ungewiss. Es gibt ja genügend hier zu kritisieren. Aber wenn Sachsen schon in eine Vergangenheit zurückfällt, die niemand haben will, muss es die größte Stadt des Bundeslandes anders machen.

Der Osten ist abgehängt

Ich schrieb im Vorfeld der Europawahl, dass es die Wahl zwischen Pest und Cholera sei. Für die Landstriche im Osten – und speziell in Sachsen – mit hohem AfD-Anteil gilt das auch noch nach wie vor. Denn wo die blaue Partei am stärksten ist, ist Europa ganz weit weg. Schauen Sie mal auf diese Karte.

Ja, wir haben in Thüringen den Ilmkreis, in dem ich sah, dass die Gegend stehengeblieben ist. In den Kreisen Saalfeld-Rudolstadt, Sonneberg und dem Saale-Orla-Kreis ist es sicher ähnlich. Auch in Altenburg und Gera. In Sachsen-Anhalt sind es Mansfeld-Südharz, der Saalekreis und der Burgenlandkreis. Das sind schlafende Regionen. Ähnlich wie der Kreis Nordsachsen.

In Sachsen können wir das aber nicht so einfach machen. Ist denn Mittelsachsen wirklich abgehängt? Fakt ist aber – und das gilt auch in Mecklenburg-Vorpommern bei der Uckermark oder in Brandenburg in Frankfurt (Oder) – das Eine: Je weiter östlich man schaut, desto mehr wurde AfD gewählt.

Die drei östlichsten Landkreise Sachsens – Görlitz, Bautzen und Sächsische Schweiz-Osterzgebirge – haben den höchsten AfD-Anteil. dort ist das Lausitzer Braunkohlerevier. Und die Angst, beim Braunkohle-Ausstieg wieder die Verlierer zu sein. Der Landkreis Görlitz zählt zu den strukturschwächsten Regionen Deutschlands.

Das gehört zur Wahrheit einfach mal dazu. Die Menschen fühlen sich abgehängt, vergessen, nicht ernst genommen. Ich schrieb darüber auch mal ziemlich wortreich. Die Politik hat es versäumt, die Rahmenbedingungen zu verbessern und die Regionen zu entwickeln. Die AfD kann das auch nicht. Mal schauen, wann den Regionen das klar wird.

Machen wir nun den Freistaat Leipzig?

Natürlich ist das Quatsch. Einen Freistaat Leipzig wird es nicht geben. Und wir sind uns sicher einig, dass auch in der Friede-Freude-Eierkuchen-Stadt Leipzig nicht alles so toll ist. Hier wurde die Stadt auch an der Bevölkerung vorbei entwickelt. Aber man ist zum Glück weltoffen. Macht uns das gleich zu einem Freistaat Leipzig?

Nein, natürlich nicht. Fakt ist aber, dass in Leipzig die Situation nicht so schlimm ist wie in den Geisterstädten in den Landkreisen. Nehmen wir Weißwasser in der Oberlausitz. Die Stadt hatte 1988 über 38000 Einwohner. Heute ist es nur etwas mehr als die Hälfte. Auch die Stadt Görlitz hatte sich halbiert, aber schon seit 1950. Pirna in der Sächsischen Schweiz verlor von knapp 50000 auf 38000 Einwohner.

Das liegt auch sehr stark daran, weil dort die Wirtschaft, das Handwerk, die Industrie weggebrochen sind und keine Alternativen entwickelt wurden. So hat sich eine politische Alternative gebildet. Das hatte man in Leipzig eindeutig besser gemacht. Und so kommt es, dass seit der Wende die Bevölkerung in Sachsen von 4,8 auf 4,1 Millionen zurückging.

In Leipzig berappelt man sich seit den 437000 im Jahr 1998. Momentan haben wir 585000 Einwohner. Durch Zuzug, durch Attraktivität, durch die Anziehung aus dem ländlichen Raum. Das macht Leipzig aber nicht einfach zum Freistaat Leipzig. Es macht die anderen Regionen aber noch viel ärmer.

Das macht es auch am Ende aus, dass man in vielen Regionen Ostdeutschlands mit Europa fremdelt. Da Leipzig schon immer weltoffener war als andere Orte in Sachsen, bekommt man das hier alles nicht mit. Und deshalb sind Leipziger sehr schockiert, an welchem Abgrund Sachsen nun steht. Werfen wir das Lasso aus, bevor es zu spät ist.

2 Replies to “Freistaat Leipzig – Sachsen am politischen Abgrund”

  1. Dito in Halle…
    Halle hat Links gewählt, die AfD nur 4. stärkste Partei.
    Die Linke 17,78 Prozent – zehn Sitze
    CDU 17,42 Prozent – zehn Sitze
    Grüne 16,28 Prozent – neun Sitze
    AfD 13,99 Prozent – acht Sitze
    SPD 11,27 Prozent – sechs Sitze
    Hauptsache Halle 6,87 Prozent – vier Sitze
    FDP 5,37 Prozent – drei Sitze
    MitBürger 4,46 Prozent – drei Sitze
    Die Partei 3,42 Prozent – zwei Sitze
    Freie Wähler 2,09 Prozent – ein Sitz
    Bisher war Halle immer eine SPD Stadt, doch die SPD hat hier nichts mehr zumelden.

    Aber rund um Halle, im Saalekreis, Mansfelder-Land und Burgenlandkreis da war die AfD auch stärkste Partei. Im Rest ist die CDU Stärkste Partei.
    Gott sei Dank ist Halle eine Unistadt und hat somit eine Menge intelligente Leutchen.

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