35 Jahre „Domino“ von Genesis

Ihr fragt euch jetzt, was das für ein Lied ist, von dem ich da erzähle, weil euch „Domino“ von Genesis gar nichts sagt? Kunststück, es war ja auch keine Single. Legendär ist es dennoch geworden, es kam sogar bis in die Top 30 der US Mainstream Rock Charts. Das Stück ist mit seinen fast 11 Minuten ein Prachtexemplar für Progressive Rock. Es ist bis heute eins der wichtigsten Lieder von Genesis. Es stammt vom Album „Invisible Touch“. Ja, das sagt euch was, oder? Und jetzt besprechen wir mal diese Rocknummer.

Die Suite „Domino“

In the Glow of the Night

Das Grau des Abends füllt den Raum. Es ist nicht nötig, nach draußen zu schauen, um den Regen zu sehen oder zu fühlen. Dann greife ich hinüber, um sie zu berühren. Aber ich weiß, dass sie nicht da ist. Der Regen läuft weiter an der Fensterscheibe hinunter. Die Zeit läuft für mich ab.

Kannst du nicht sehen, was du mir antust? Siehst du nicht, was du getan hast? Während ich versuche, eine weitere lange und schlaflose Nacht zu verbringen, rufen 100 verrückte Stimmen meinen Namen. Während ich versuche, an ihnen vorbei zu kommen, kann ich fast glauben, dass sie hier ist, hier im Schein der Nacht.

Das Doppelglas hilt, die Nacht draußen zu halten. Nur Sirenen der fremden Stadt können durchdringen. Nylonlaken und Decken helfen, die Kälte zu minimieren. Aber sie können die kalten Geräusche nicht abhalten. Wird der Alptraum bald dem Traum weichen, dass sie hier bei mir ist, hier im Schein der Nacht?

Weißt du, was du getan hast und was du begonnen hast? Siehst du, dass wir nie wieder zusammen sein werden, mein ganzes Leben lang? Einsame Menschen, leere Räume, sinnlose Gewalt, stille Gräber. Könnte es sein, dass wir wieder zusammen sein werden?

In Stille und Dunkelheit hielten wir uns in dieser Nacht aneinander fest. Wir beteten, dass sie ewig dauern würde.

The last Domino

Blut an den Fenstern, Millionen gewöhnlicher Menschen sind dort. Sie starren auf die Szenerie. Sie tun so, als sei sie vollkommen klar. Schau dir die Berge an! Schau auf den schönen Fluss voller Blut. Die Flüssigkeit umgibt mich. Ich kämpfe, um aus diesem Höllenfluss aufzusteigen. Ich starre um mich herum. Kinder schwimmen und spielen mit Booten. Ihre Gesichtszüge verändern sich. Ihre Körper lösen sich auf, und ich bin allein. Nun seht ihr, was ihr getan habt!

Du hast noch nie so etwas schreckliches gesehen, wie es gestern Abend im Fernsehen zu sehen war. Vielleicht, wenn wir Glück haben, zeigen sie es nochmal. Aber es gibt nichts, was man tun kann, wenn man der Nächste ist. Du musst Domino spielen. Jetzt bin ich eins mit den Lebenden, und mir geht es gut. Ich weiß genau, was ich tun muss: Das Spiel spielen und sich nichts anmerken lassen. Es lebt nur in einem Song weiter. Aber es gibt nichts, was man tun kann, wenn man der Nächste ist. Du musst Domino spielen. Weißt du, was du getan hast?

In Stille und Dunkelheit haltet euch heute Nacht aneinander fest. Denn es wird wohl ewig dauern.

Drüben im Libanon

Stellt euch mal vor, ihr seht eine Reportage über einen abscheulichen Krieg. Euch treibt das Ganze derart um, dass ihr mit euren Gedanken nicht wisst, wohin. 1982 fand der Libanonkrieg zwischen der PLO und syrischen Truppen auf der einen Seite und Israel und den USA auf der anderen Seite statt. Dabei fanden über 10000 Menschen den Tod, die allermeisten davon Libanesen. Tony Banks, der Tausendsassa mit den Keyboards, musste sich darüber Luft machen.

„Domino“ behandelt das Thema. Die Szenerie ist ein Hotel in Beirut am Abend vor den schrecklichen Ereignissen, als die Hauptstadt des Libanon bombardiert wurde. Israel nannte das Ganze „Frieden für Galiläa“, der Libanon sprach von Krieg. Und wie das immer ist: Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Der eigentliche Auslöser für diesen abscheulichen Krieg, der größtenteils das unschuldige Volk traf, war ein Anschlag der Abu Nidal Organisation auf den damaligen Botschafter Israels Shlomo Argov.

Jedenfalls wurde über diesen Krieg immer wieder berichtet. Und Tony Banks saß 1984 da und wusste nicht, wohin mit seinen Gedanken. Er sah offenbar die Menschen, die sich nicht für diesen Krieg interessiert hatten. Und er hat sich wohl gedacht: „Dann sollen sie weiter Domino spielen“. So wird es wohl zu dem Lied gekommen sein. Und so muss es überhaupt zu dem sagenhaften Album „Invisible Touch“ gekommen sein.

Nie wieder

Ja, man sagt sich so leicht „Nie wieder Krieg“. Und dann schauen wir nach Syrien und in den Jemen und sonstwo hin. „Invisible Touch“ war alles andere als ein Pop-Album von Genesis. „Land of Confusion“ sprach über den Kalten Krieg. „Tonight, Tonight, Tonight“ über Drogensucht. „In Too Deep“ war Filmmusik für „American Psycho“ und hat entsprechenden Inhalt. Das Titelstück erzählt von einer Frau, die die Mächte gegeneinander ausspielt, weil sie den „Invisible Touch“ (das gewisse Etwas) hat.

Genesis haben immer wieder Krieg und Gewalt besprochen. Sie waren immer ernst. Erinnert ihr euch an „No Son of Mine“? Lest einfach mal hier nach. Nicht nur in „Domino“, sondern immer wieder im Schaffen von Genesis fanden ernste Themen ihren Platz. Allerdings bleibt „Domino“ ein enorm zentrales Stück im gesamten Katalog der drei Musiker. Dieses monumentale Lied gehört einfach zum Repertoire und wurde immer wieder live aufgeführt.

Das Lied

Natürlich gibt es kein offizielles Video zu „Domino“. Glückwunsch, es war ja keine Single. Das macht aber nichts. Hört euch einfach mal die 10:45 an. Ja, liebe Kinder, es gab mal Zeiten, da waren solche langen Lieder drin.

Genesis Domino part 1 and 2
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Genesis – Domino

5 Replies to “35 Jahre „Domino“ von Genesis”

  1. Ui. Das hat mich jetzt animiert, die Live-Doppel-DVD von der „The Way We Walk“-Tour einzulegen, denn dort gibt es vor Domino das wunderbare Phil Collins-Intro zum „Domino Principle“ zu sehen und hören. Immer wieder schön.

    Jetzt gerade höre ich Domino von der Invisible Touch… auch immer wieder schön. War immer mein Favorit auf dieser CD.

    Mann, waren das Zeiten, als es noch die großen Longplayer verschiedener Progbands gab. Heute freue ich mich über jeden 10+Minüter von Bands wie The Pineapple Thief…

  2. Hi Henning,
    das ist vielleicht einer der wenigen Vorteile die wir alten Säcke haben: die Musik unserer Tage war um Lichtjahre besser als die heutigen schnelllebigen Trällerbarden..
    „GENESIS“ kenne ich noch von Anfang an – und fand die immer „geil“. Heute sagt man wohl, die haben mich „geflasht“. Meine Güte, ich war damals 16, hatte meine erste Mofa und wir sind zu fünft mit unseren Zündapp, Herkules und Vespa-Mofas ins Sauerland zum campen gefahren. Dabei ein Ghettoblaster der damals noch Kassetten-Radio hiess. Und darin war die Musik-Kassette mit dem Genesis-Album „Foxtrot“. Mann, was haben wir die Lieder Abends am Lagerfeuer mitgegröhlt. Zugegebenermaßen haben wir aber die Texte nicht wirklich verstanden..
    Und ebenfalls zugegebenermaßen war das auch nicht besonders schön anzuhören – jedenfalls der Meinung anderer Camper in der näheren Nachbarschaft, weshalb man uns bat das singen doch besser sein zu lassen und den Radiorekorder etwas leiser zu stellen.
    Ja, Genesis war schon immer auch sozialkritisch. Das Lied „get them out by Friday“ auf dem Album handelt davon Mieter bis Freitag aus den Wohnungen raus zu bekommen. Das Album wurde aber schon 10 Jahre vor „Invisible Touch“ komponiert..
    Eines der Eigenarten von Genesis war ja, dass Liedtexte sich zum Teil nicht reimten, und auch am Ende der Zeile umbrachen und dann in der nächsten Zeile weitergingen. Die Komplexität der Texte war natürlich ein ganz anders Kaliber als „Cherry, Cherry Lady“.. :-)
    Ich habe mal grade auf meiner NAS geschaut. 35 Alben hat Genesis rausgehauen.. Auch ein paar Bootlegs habe ich hier noch rumfliegen. Falls Du mal reinhören möchtest.. DN..
    CU
    Peter

  3. Stellt euch einfach mal eine Party ca. 1977 mit rund 12 Leuten gemischt im Alter um 17 vor, samstags spät abends legt jemand auf und du kannst nur von den Plattenseiten-Wechseln unterbrochen die ganze The Lamb Lies Down On Broadway hören.

    Und danach gab’s dann z.B. die Allman Brothers Band, Zappa, Jethro Tull, Led Zeppelin und/oder Vergleichbares.

    Hatten wir nicht eine Unmenge geiler Musik?

  4. Ich habe gerade die LP aufgelegt, weil ich bei den Nachrichten über den aktuellen Krieg zwischen Israel und der Hamas an den Song dachte. Ich wusste nicht, dass ich mit meiner Interpretation so nah dran lag. Ein starkes, emotionales Musikstück!

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