40 Jahre „Dazzle Ships“ von OMD

Reden wir über eins der ungewöhnlichsten Alben der Musikgeschichte. Heute vor 40 Jahren wurde „Dazzle Ships“ von OMD veröffentlicht. Was für eine Schallplatte! Als ich auf OMD damals gestoßen bin, war das mit „Shame“ von 1987. Natürlich kannte man auch als DDR-Kind andere Nummern der Band. Aber ausgerechnet das Album, das fast das Aus für die Band bedeutete, war mir völlig unbekannt. Anlässlich des 40. Geburtstag der Scheibe musste ich deshalb einmal den gesamten Artikel neu bauen. Kommt mal mit auf die Reise zu den Flaggen und Streifen.

„Dazzle Ships“ – Da war es fast vorbei

Es war das Album nach dem Meilenstein „Architecture & Morality“ mit dem Klassiker „Maid of Orleans“. Als ein neues Album angekündigt war, hoffte alle Welt auf einen passenden Nachfolger. Naja, und dann kamen Andy McCluskey, Paul Humphreys, Martin Cooper und Mal Holmes mit „Dazzle Ships“ um die Ecke und zeigten allen einen fetten Stinkefinger. Denn statt New Wave und Synth Pop kamen sie mit Electronica, Musique Concrete und jeder Menge Experimente um die Ecke.

Das Album war ein ziemlicher Harakiri. Es ist heute auch irgendwie das kürzeste Album, trotz dass die Standardanzahl von 12 Titeln drauf zu finden ist. Sie wollten etwas komplett anderes machen. Denn niemals hatten sie beim Vorgänger mit einem derart durchschlagenden Erfolg gerechnet. Und so kamen sie 1,5 Jahre nach dem Welterfolg mit dem Konzept der Fahnen und der Technologie und viel Diskussionen um die Ecke und beriefen sich auf ein Gemälde von Edward Wadsworth.

A-Seite

78 Sekunden lang ist die Einstimmung. Die nennt sich „Radio Prague“. Das ist genau das, wonach es klingt: Der Erkennungs-Jingle des tschechoslowakischen Rundfunks. Nein, Leute, das ist kein Witz. Sie wollten sogar irgendwo auf dem Album das Jingle des Schweizer Rundfunks namens „Swiss Radio International“ unterbringen. Aber das hat dann doch niemand mitgemacht.

Das erste richtige Lied ist dann „Genetic Engineering“, die Hauptsingle des Albums. Ja, es geht um Gentechnik. Die Technologie-Verrückten fanden, es ist eine spannende Idee, sich damit zu beschäftigen. Der Roboter weist die Evolution an: „Babys – Mutter – Krankenhaus – Schere – Kreatur – Urteil – Metzger – Ingenieur“. Und das war dann schon schwere Kost, verpackt in Tralala-Pop.

„ABC Auto-Industry“ ist ein kurzes Stück, wie ein Walzer. Mehrere Any McCluskeys singen „ABC“ und „123“ und, und, und. Ein paar Pauken und Samples. Super! Der zweite große Hit ist dann „Telegraph“, die Geschichte über ein Telegramm, auf dem nutzlose Worte stehen. Ja, es ist die Hymne an die Telegrafie. Ich sag ja: Technik.

„This is Helena“ ist dann schon fast Punk. Eine automatisierte Frauenstimme erzählt uns, dass das Musik für den Kassettenrecorder – oder noch besser: für’s Tonband – ist. Es handelt sich um eine Aufnahme von Radio Prag. Mit „International“ werden Radio-Samples aus aller Welt vermischt. Andy McCluskey sagte dazu, dass er glaubt, dass die Begrenzung auf Länder eine ineffiziente Idee ist, die Welt zu organisieren.

B-Seite

Und da kommt es: Das Titelstück. Die Sound-Collage „Dazzle Ships Parts II, III and VII“ kommt dann mit knapp 2,5 Minuten daher. Viele Jahre haben OMD ihre Konzerte damit eröffnet. Die Effekte, die nach Kriegsschiffen und U-Booten klingen, wirken sehr bedrohlich und hart. Was für ein Stück!

Und wenn sie ihre Konzerte eröffnen, beenden sie sie auch wieder. Das taten sie mit dem so genannten „Architecture & Morality Go-Home song“. Die beeindruckende Ballade „The Romance of the Telescope“ erzählt die Geschichte der Romantik, die ein Fernrohr bietet. Astronomie. Der Weltraum, unendliche Weiten. Andy McCluskey verabschiedete sich auf Konzerten immer mit den Worten, dass das Publikum heil zuhause ankommen möge.

Es geht großartig weiter mit „Silent Running“. Wir sind bei den U-Booten von „Dazzle Ships“. Die machen nämlich eine Schleichfahrt. Wobei: Andy McCluskey singt, dass sie auf Wolken gehen und sich Zeit nehmen. „Silent Running“ wurde es nur so genannt.

In „Radio Waves“ geht es um die Beobachtung von Radiowellen, die für Rundfunk, Funk und zur Ortung verwendet werden. Und diese, so singt es Paul Humphreys, sind – öhm – lebendig. OK… Das könnte auch von Kraftwerk sein. In „Time Zones“ werden dann verrückterweise Zeitansagen, wie es sie mal gab, in den verschiedenen Sprachen zusammen gemixt. Auch wieder so ein Experiment.

Abgeschlossen wird „Dazzle Ships“ mit dem famosen „Of All the Things We’ve Made“. Ich habe es live erlebt, wie sich die Band in einer Reihe aufstellt und – jetzt eben – Stuart Kershaw einfach nur eine Trommel um den Hals hat. Es ist der Rückblick auf das, was die Menschheit so geschafft hat. Und OMD dachten, es wäre das letzte Lied, was sie jemals schreiben würden.

Was haben sie sich denn dabei gedacht?

Das Album hatte Massen von OMD-Fans zu Tode erschreckt. Die waren von einer melancholischen, mystischen Fortführung von „Architecture & Morality“ ausgegangen. Es soll Fans gegeben haben, die ihre Platte „Dazzle Ships“ wieder in die Läden gebracht haben mit den Worten, dass das doch niemals OMD sein konnten. Musikkritiker fielen über die 34 Minuten her wie Werwölfe. Es sei die „schlimmste Sorte von futuristischem Unsinn“. Der Boston Phoenix meinte, es wäre „Guzzle Shit by Offensive Manure In The Park“: Besoffene Scheiße von Anstößigem Dünger im Park.

Wow! Leute, was habt ihr euch denn nur dabei gedacht? Das kann ich euch sagen. OMD hatten bei „Dazzle Ships“ die Nase voll, nur über „Maid Of Orleans“ und Souvenir“ definiert zu werden. Die Musikwelt konnte mit dem Avantgarde-Charm des Albums so gar nichts anfangen. Und bei „Of All the Things We’ve Done“ war der Band klar: Scheiße, das verzeihen die uns nie! Am Ende haben sie aber dennoch allen gezeigt.

Der Einfluss ist immens

Am Ende wurde alles gut. „Dazzle Ships“ war 1983 seiner Zeit weit, weit voraus. Es kam mitten im Kalten Krieg daher. Das Artwork war dem Gemälde „Dazzle-Ships in Drydock at Liverpool“ von Edward Wadsworth nachempfunden. Im Ersten Weltkrieg gab es noch kein Radar. Und um Kriegsschiffe zu verschleiern, wurden sie in „Dazzle Camouflage“ angemalt. Und OMD machten ja noch mehr zu der Zeit.

Sie standen beschlipst, mit dunklen Hemden und Seitenscheiteln auf der Bühne und schwangen Fähnchen. Ein Beispiel ist hier zu sehen. Das war dann doch alles sehr martialisch. Ich glaube, das hatte dazu geführt, dass man OMD gar unterstellt hatte, sie hätten die Kriegsgreuel der Nazis verherrlicht. Das klare Gegenteil war immer der Fall. Nur hatte das damals niemand mitbekommen.

OMD waren immer Technik-Fanatiker. Alles, was mit Technologie erschaffen werden konnte, hat sie fasziniert. Aber sie wollten immer anmahnen, dass Kriegstreiberei niemals dazugehören darf. Insofern können wir auch „Of All the Things We’ve Made“ so übersetzen, dass sie erschrocken waren, wie kriegerisch aufgeheizt die Atmosphäre im Kalten Krieg war.

Auf lange Sicht hatte „Dazzle Ships“ einen gewaltigen Einfluss. Für die Musikwelt meiner Meinung nach noch wesentlich mehr als „Architecture & Morality“. Musiker wie Mark Ronson und jede Menge Acts aus der Elektronik-Szene nahmen das Album als Startpunkt, selbst Musik zu machen. Einige stufen „Dazzle Ships“ sogar als DAS Magnum Opus von OMD ein. Und die Fans haben schon lange ihren Frieden mit dem Album gemacht.

Es hat alles überdauert

„Dazzle Ships“ ist ein Album, das man zertreten möchte, an die Wand nageln will, verbrennen will. Es wird aber alles nichts helfen. Es hat bisher alles überstanden. Und das wird auch so weitergehen. Wohingegen die von der Plattenfirma geforderten, für den US-Markt optimierten Alben „Junk Culture“, „Crush“ und „The Pacific Age“ lange verblasst sind, redet man immernoch über dieses brachiale und nicht schöne Konzeptalbum.

Sie spielen es gar ab und an mal vollständig. Vor einigen Jahren führten es OMD zusammen mit dem „Royal Philharmonic Orchestra“ auf. Volle Kapelle, Schaudern, ein Martyrium für jeden, der nicht damit vertraut ist. „Dazzle Ships“ ist somit über die Jahre zur Legende geworden. Und heute wird es vierzig Jahre alt. Happy Birthday, altes Haus! Das ist dein Go-Home-Song:

OMD Romance Of The Telescope video with RLPO
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