Gib nicht auf, denn du hast Freunde. Gib nicht auf, denn du bist nicht der Einzige. Gib nicht auf, es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Gib nicht auf, da gibt es immernoch uns.
Die ersten Blüten sprießen draußen am alten Bahngelände. Die Sonne grinst mir ins Gesicht. Verstohlen lassen sich die ersten Vögel wieder blicken. Und ich sitze hinter meinem Fenster in meiner Wohnung, die der Braunkohlenabwicklungsgesellschaft gehört, und höre gerade Peter Gabriel, wie er sich gemeinsam mit Kate Bush Mut zu singt.
Das waren jetzt ein paar sehr stürmische Jahre. Vielen kam es so vor, als ist der 21.12.2012 tatsächlich wahr geworden. Erst kamen Rebellen im Arabischen Raum auf den Plan. Das nannte man dann „grüne Revolution“, und ich weiß immernoch nicht, was daran grün war. Wenn dann war sie rot. Dann waren einige Staaten der Meinung, sie müssten ihr Volk beschnüffeln. Ob das miteinander zusammenhing, weiß ich nicht. Ich glaube es aber nicht.
Das politische Gefüge in der Welt hatte sich geändert. Und die von der Wirtschaftslobby getragene und bestimmte Politik hatte auf einmal ein viel größeres Feindbild, als der Kalte Krieg in den Achtzigern des 20. Jahrhunderts hätte malen können.
Das Volk eines jeden Landes machte sich jetzt ein eigenes Bild. Es wurde diskutiert, gestritten, Meinungen geäußert oder sich versammelt. Das war die große Zeit der Blogs und Communities. Jeder, der etwas auf sich hielt, war im Internet vertreten. Da mit einer eigenen Webseite oder einem gut vernetzten Profil auch eine politische Stimmung erzeugt werden konnte, musste von der herrschenden Klasse dagegen vorgegangen werden. Sie hätte ja sonst an Einfluss verlieren können.
Da wurden per Urheberrecht ehemals kleine Blogs verfolgt, als wäre ein Terroranschlag verübt worden. Da wurden bei den damaligen großen Netzwerken wie Facebook, Google+ oder Twitter die Meinungen zensiert. Ganze Portale wurden wegen übler Nachrede geschlossen. Und als Nutzer des damaligen Internet zerbrach man sich den Kopf, wie man den staatlichen Meinungsjägern am besten aus dem Wege gehen sollte.
Ein Bekannter, der bei der hiesigen Zeitung damals arbeitete, hatte mir mal beim Bier erzählt, dass man urplötzlich wieder mehr geschriebene Leserbriefe erhielt. Nein, das war nicht das, was viele noch als Email kennen. Da trafen tatsächlich Unmassen von Briefen ein, und zwar zu Themen, wie sie sonst nur in Foren und Netzwerken diskutiert wurden. Im Gegenzug dazu, so hatte er damals erklärt, hatte der Zugriff auf die Webseiten der Zeitung rapide nachgelassen. Und die Werbeeinnahmen.
Ich weiß ja selbst noch, wie das damals war. Meine Internetseite hatte damals so langsam Fuß gefasst, und ich stellte ein stetiges Wachstum der Besucherzahlen fest. Das nahm dann urplötzlich ab. Und was die Kommentare zu Themen auf meiner Seite betraf, so konnte man fast schon von Hetze reden. Das war im Herbst 2014. Freunden konnte man nichts mehr im Vertrauen mitteilen, wenn man ihnen nicht direkt gegenüber saß oder stand. Hatten vermeintliche Freunde etwas kommentiert, konnte man fast immer davon ausgehen, dass das Benutzerkonto von Hackern missbraucht wurde.
So kam es dann, dass die Sache mit den Communities und den Blogs bald ein Ende nahm. Man schwor zwar, dass man sich das von den Regierungen nicht mehr gefallen lassen würde. Aber nach dem vierten oder fünften Hackerkrieg auf dem Rücken der unbescholtenen Internetbenutzer wand sich der größte Teil von ihnen vom Internet ab. Zu groß war die Gefahr, dass persönliche Daten missbraucht würden.
Nun kam es nicht mehr zu raschen Versammlungen, um gegen irgendeinen Beschluß oder ein Abkommen zu protestieren. Nun kamen wieder die Boten mit den fliegenden Blättern. Die damals bekannten Flashmobs hatten ein Ende. Die vermutete europäische Revolution, um gegen den Verfall der damaligen Währung Sturm zu laufen, fand deshalb nicht mehr statt.
Stattdessen kam es zwischen Frankreich und Deutschland letztes Jahr zum Sezessionskrieg. Die ehemals sehr eng befreundeten Länder konnten sich nicht mehr auf eine gemeinsame Währung einigen. Und nachdem es dann auch Streit darüber gab, wer über Belgien und Luxemburg das Sagen hat, kam es zum berühmten „Rheinfall“. Die Bundeswehr und die französische Armee überfielen sich letzten Sommer gegenseitig an den jeweiligen Uferseiten des Rheins.
Was war der Erfolg? Eigentlich keiner. Jeder rannte aus der Europäischen Union. Jeder fing an, wieder sein eigenes Geld zu drucken. Bloß gut, dass Deutschland schon 2011 damit angefangen hatte. So ist mein Land wenigstens sofort handlungsfähig gewesen.
Trotz dass der unsägliche Krieg zu Ende ist, ist man weiterhin seines Lebens nicht sicher. Überall Bespitzelungen. Wenn man etwas erfährt, dann entweder über Hörensagen oder durch direktes Erleben. Den Nachrichten kann man ja nicht glauben, seitdem es diese neue Regierung gibt. Ein rot-grün-oranges Bündnis, das hat die Welt noch nicht gesehen.
Ich habe den Glauben an Demokratie und Rechtschaffenheit verloren. Vielleicht wird aber wieder etwas neues entstehen. Vielleicht sogar dieses Cybernetz, von dem alle erzählen. Nachem die großen Internet-Knoten vernichtet sind, haben ein paar Aktivisten angefangen, sich wieder neu zu vernetzen. Dann, meine liebe Tochter, werde ich für dich meine Internetseite wieder zum Leben erwecken.
Wir werden auf jeden Fall zusammenhalten, meine kleine Prinzessin. Wir drei sind schließlich eine Familie. Und die bringt uns auch durch die schwere Zeit ohne Arbeit. Dieses Jahr wirst du 10 Jahre alt, da will ich dir eine große Party veranstalten. Und deshalb gebe ich nicht auf.
[HINWEIS] Das ist eine rein fiktive Geschichte. Ich kann mir aber vorstellen, dass es soweit kommen kann. Der Eingangsabsatz ist die deutsche Übersetzung von „Don’t give up“.
5 Replies to “Frühjahr 2016”